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"Der Gespächsbedarf ist groß"
Interview mit Martine Deprez im TageblattInterview: Tageblatt (Luc Laboulle)
Tageblatt: Frau Deprez, 2027 soll die Reserve der Krankenversicherung unter die gesetzlich vorgeschriebene Mindestgrenze von zehn Prozent der laufenden Ausgaben sinken, was eine Beitragserhöhung zur Folge hätte. Die Quadripartite hat am Montag offenbar keinen Weg gefunden, um höhere Beiträge zu vermeiden. Nach der Beitragserhöhung bei den Renten kommt nun möglicherweise auch eine bei der Krankenversicherung. Schrumpft der von der Regierung versprochene "méi Netto vum Brutto" immer weiter?
Martine Deprez: Ich weiß nicht, ob wir am Montag keinen Weg gefunden haben, um eine Beitragserhöhung zu verhindern. Wir haben bei der Quadripartite ein "Comité stratégique" eingesetzt, das versuchen soll, die Maßnahmen in der "Feuille de route", die die Regierung vergangenes Jahr zusammen mit den Sozialpartnern erstellt hat, umzusetzen. Gelingt uns das, werden wir in einer ersten Phase 60 Millionen Euro einsparen, in einer zweiten weitere 80 Millionen durch gesetzliche und reglementarische Anpassungen. Das alleine reicht nicht ganz aus, um eine mögliche Beitragserhöhung zu verhindern, doch darüber diskutieren wir erst im November 2026. Wenn parallel zu diesen Maßnahmen die Wirtschaftsleistung wieder anzieht, steigt die Lohnmasse und wir brauchen die Beiträge vielleicht nicht zu erhöhen. Wir haben demnach noch nicht angekündigt, dass die Beiträge 2027 erhöht werden, sondern fassen das ins Auge, falls die Maßnahmen, mit denen wir das Ruder rumreißen wollen, nicht ausreichen sollten.
Tageblatt: Sie sagten am Montag, Sozialpartner und Regierung hätten sich nicht auf andere "Pisten" einigen können. Welche "Pisten" lagen denn noch auf dem Tisch?
Martine Deprez: Gewerkschaften und Patronat waren sich relativ schnell einig, dass sie nur Vorschläge auf den Tisch legen, mit denen sie beide einverstanden sind. Bei welchen Pisten sie unterschiedlicher Meinung waren, weiß ich nicht. Doch sie können sich ja vorstellen, dass man auch die Ausgaben senken könnte, indem man den Eigenanteil der Versicherten erhöht. Wir waren uns aber alle einig, dass das bis 2028 nicht zur Debatte steht.
Tageblatt: Die Quadripartite wurde überschattet von der Entscheidung der AMMD, die Konvention mit der CNS zu kündigen. Können Sie diese Entscheidung nachvollziehen?
Martine Deprez: Die AMMD hat am Montag die Absicht bekundet, die Konvention nach Absprache mit ihren Juristen in den nächsten Tagen oder Wochen zu kündigen. Bislang habe ich noch keinen Brief erhalten, dass die Konvention gekündigt ist.
Tageblatt: Vier Monate nach Ihrem Amtsantritt haben Sie den von der AMMD mit geschriebenen Gesetzentwurf Ihrer LSAP-Vorgängerin Paulette Lenert, der es Ärzten erlauben sollte, kommerzielle Gesellschaften zu gründen, zurückgezogen. Dabei hatte sich die CSV jahrelang lautstark für diese medizinische "Freiheit" eingesetzt. Was hat Ihnen an Frau Lenerts Entwurf nicht gefallen?
Martine Deprez: Es war eigentlich nicht Frau Lenerts Entwurf. Er wurde außer Haus verfasst - wer ihn in Auftrag gegeben hat, weiß ich nicht. Als er im Parlament hinterlegt wurde, war ich als Mitglied des Staatsrats für den Entwurf zuständig. Wir haben mehrmals darüber diskutiert, haben Vertreter des Gesundheitsministeriums eingeladen. In dem Zustand, in dem er im Staatsrat ankam, hätte es sehr lange gedauert, bis wir ein Gutachten hätten abgeben können. Es wäre auch ziemlich "anstrengend" geworden, in dem Sinn, dass fast jeder Artikel Fragen aufwarf, Dinge unverständlich formuliert waren. Vielleicht habe ich den Gesetzentwurf zu schnell zurückgezogen, doch ich habe es getan, damit der Staatsrat weiß, dass er kein Gutachten abgeben muss und wir einen neuen Entwurf hinterlegen. In dem Moment, als wir ihn zurückgezogen haben, haben wir uns umgeschaut, wie die Situation in den Nachbarländern ist. Diese Analyse wurde im Sommer 2024 abgeschlossen. Danach haben wir im Ministerium damit begonnen, einen neuen Text zu schreiben, der an die Situation in Luxemburg angepasst ist.
Tageblatt: Bis Ende des Jahres wollen Sie Ihren neuen Gesetzentwurf hinterlegen. Wie sollen diese Arztgesellschaften künftig aufgestellt sein, wer soll sich daran beteiligen dürfen - nur Ärzte oder auch nicht-medizinische Investoren?
Martine Deprez: Wir haben uns am französischen Modell inspiriert, das ohne externe Finanziers auskommt, beziehungsweise, wenn Finanziers dabei sind, dürfen sie nur einen ganz kleinen Anteil an der Gesellschaft besitzen. Paulette Lenert hat mir am Dienstag eine mündliche parlamentarische Anfrage gestellt zu dem Brief des "Cercle des médecins généralistes" (CMG), der, im Gegensatz zur AMMD, auf Finanziers verzichten will. Nach derzeitigem Stand der Dinge will die Regierung auch keine Finanziers - so steht es im Regierungsprogramm.
In den nächsten Wochen werden wir intensive Gespräche mit der AMMD, dem CMG und dem "Collège médical” führen müssen, um herauszufinden, ob wir einen Konsens erreichen, oder den Text so hinterlegen, wie CSV und DP es im Koalitionsabkommen vereinbart haben.
Tageblatt: Unterschiedliche Ansichten haben AMMD und CMG auch in der Frage, ob Ärzte andere Ärzte als Beschäftigte einstellen dürfen. Wie sieht die Regierung das?
Martine Deprez: Das wünscht sich die AMMD, wir haben das auch so vorgesehen. Die Gesellschaften sollen auch nur aus einer Person bestehen können. Falls der Arzt krank wird oder aus anderen Gründen für längere Zeit ausfällt, kann der Beschäftigte den Betrieb der Praxis weiterführen. Aus dem Brief des CMG ging hervor, dass die Allgemeinmediziner das nicht für notwendig erachten. Aber es wird ja niemand dazu gezwungen, andere einzustellen. Wir schaffen nur die Möglichkeit für größere Praxen, junge Ärzte einzustellen, die vielleicht nicht sofort in eine Gesellschaft einsteigen möchten.
Tageblatt: In der Zahnmedizin gibt es laut AMMD längst das System, dass Investoren Praxen eröffnen, in denen sie Zahnärzte - vorzugsweise aus Drittstaaten - beschäftigen. Offen bar werden dort Behandlungen durchgeführt, die für die CNS teuer und für den Patienten nicht immer notwendig sind. Wegen des "Conventionnement automatique" hätten Patienten und CNS keine Kontrolle darüber, was ihnen in Rechnung gestellt wird, sagt die AMMD. Können Sie das bestätigen?
Martine Deprez: Es gibt Gruppenpraxen, die 24 Stunden am Tag geöffnet sind, vielleicht handelt es sich um Leute aus dem Ausland, die eine Filiale in Luxemburg eröffnen. Wir kennen nicht alle Details, wir sehen nur die Rechnungen, die bei der CNS ankommen. Diese Rechnungen sind gemäß unseren Tarifen ausgestellt. Ob tatsächlich die Leistungen erbracht wurden, die auf der Rechnung stehen, kann man prinzipiell bei jedem Arzt hinterfragen. Es ist aber der Patient, der die Rechnung akzeptiert, und er weiß ja, ob ihm ein Zahn gezogen wurde oder nicht. Deswegen die gesamte Konventionierung infrage zu stellen, ist etwas gewagt. Wir wissen, dass die Zahl der Zahnärzte in den vergangenen Jahren massiv gestiegen ist. Das liegt aber wahrscheinlich auch an der attraktiven Tariflandschaft im Land.
Würden wir bei den Zahnärzten damit beginnen, die automatische Konventionierung aufzuheben, bräuchten wir dafür einen ganzen Apparat, der einerseits zwar die Genehmigung zur Ausübung vergibt, andererseits aber sagt, dass bestimmte Ärzte nicht mehr mit der CNS abrechnen dürfen. Das gibt es zwar im Ausland, doch im Ausland gibt es auch die Unterscheidung zwischen Privat- und Kassenpatient. In Luxemburg haben wir das in dem Maße nicht und im Koalitionsvertrag finde ich keinen Anhaltspunkt, dass die Konventionierung infrage gestellt sei.
Tageblatt: Bis Sommer wollen Sie die Änderungen zum Gesetz über den "Virage ambulatoire" hinterlegen. Die AMMD ist gegen Antennen von Spitälern. Wollen Sie sie trotzdem beibehalten oder werden sie nach dem Gesetz zu den Arztgesellschaften nicht mehr gebraucht?
Martine Deprez: Das "Antennen-Gesetz" ist seit zwei Jahren in Kraft, vergangene Woche wurde die erste Antenne eröffnet. Der Krankenhausverband FHL und die CNS haben so lange gebraucht, um den Tarif auszuhandeln, der in dieser Antenne angewandt wird. Um jetzt alles überall zu erlauben, fehlt die tarifliche Basis. Um einen "Quick Win" für die Patienten zu erreichen, wäre es notwendig, die OP-Säle zu entlasten. Wir haben jetzt zwei Jahre lang Untersuchungen hinsichtlich eines Gesetzentwurfs für den "Accès aux soins extra hospitaliers" durchgeführt. Wir sind bereit, verschiedene Dinge umzusetzen, doch der Text muss hieb- und stichfest und finanzierbar sein. Wir könnten den Tarif für die Antennen auch auf rein private Strukturen ausdehnen, doch er gilt bislang nur für radiologische Geräte. Wir haben noch keine Tarife für andere Bereiche wie Onkologie, Poliklinik oder kleinere chirurgische Eingriffe, die wir ebenfalls den Antennen ermöglichen wollen. Die AMMD muss uns jetzt sagen, ob ihnen das für ihre Arztgesellschaften reicht oder ob sie noch mehr wollen. Des halb sollen sie uns einen Katalog vorlegen mit allen Akten, die sie in Einrichtungen außerhalb der Krankenhäuser durchführen wollen. Danach muss darüber verhandelt werden, was davon die Krankenkasse bezahlen kann und welche Tarife dafür gelten.
Tageblatt: Die AMMD möchte von der CNS mehr Geld, um die Investitionen der Ärzte in Immobilien, Material und Personal zu bezahlen. Die Methodologie der CNS beziehungsweise der IGSS, die Aufwertung der "Lettre clé" zu berechnen, stamme noch aus den 7Oer-Jahren und trage dem medizinischen Fortschritt nicht Rechnung, lautet der Vorwurf. Hat die AMMD recht?
Martine Deprez: Wir haben Parameter, um den Mindestlohn und die Renten anzupassen, genauso haben wir im "Code de la Sécurité sociale" einen Parameter, um die Aufwertung der "Lettre clé" anhand der Entwicklung des "Salaire moyen cotisable" auszurechnen. Diese Berechnung hat eine maximale Erhöhung um 2,68 Prozent ergeben. Wegen der kritischen Finanzlage der Krankenkasse hat der Verwaltungsrat der CNS entschieden, dass es angebracht wäre, den Ärzten nur die Hälfte davon zuzugestehen. Da sich AMMD und CNS bei den Verhandlungen nicht einig wurden, muss nun der "Conseil supérieur de la sécurité sociale" entscheiden.
Tageblatt: Kündigt die AMMD die Konvention, müssen laut Gesetz nach zwei Monaten Verhandlungen für eine neue Konvention beginnen. Was sollen diese Verhandlungen an Neuem bringen?
Martine Deprez: Sozialpartner und Regierung haben am Montag versucht, herauszufinden, was die AMMD davon abbringen könnte, die Konvention zu kündigen. Vergangene Woche sagte sie in einem Interview, sie warte auf ein "starkes Zeichen". Als wir am Montag gefragt haben, welches Zeichen das denn sei, bekamen wir aber keine eindeutige Antwort. Ich denke, dass sich in den letzten 30 Jahren bei den Mitgliedern der AMMD Dinge angestaut, sie sich nicht gehört gefühlt haben. Weil ich in den vergangenen beiden Jahren den Sektor durchleuchtet habe, ihnen aber keine konkreten Vorschläge gemacht habe, die ihren jahrelangen Forderungen Rechnung tragen, scheint die Kündigung der Konvention mit der CNS nun der einzige Ausweg. Die Aufwertung der "Lettre clé" war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, doch sie ist nur ein Nebenschauplatz. Die meisten ihrer Forderungen fallen eigentlich nicht in den Zuständigkeitsbereich der CNS, sondern in den der Politik, die den Ärzten im Koalitionsabkommen in Aussicht gestellt hat, das Gesundheitssystem zu öffnen, ihnen entgegenzukommen, ein Gesetz zu den Arztgesellschaften umzusetzen. In der Konvention steht eigentlich nichts, was sie direkt infrage gestellt haben. Die aktuelle Konvention wurde ja erst vor einem Jahr abgeschlossen, sie regelt nur die Beziehung der Ärzte zur CNS, etwa die digitale Übermittlung von Arztrechnungen und Krankenscheinen, und vereinfacht die "Maîtrise médicalisée". Ziel war es, dass jeder Patient das bekommt, was er braucht, aber nicht doppelt so viel und nicht zweimal das gleiche - beispielsweise an Analysen. Das war aber jetzt nicht Gegenstand der Verhandlungen, es war die Aufwertung der "Lettre clé". Andere Themen müssen an anderer Stelle verhandelt werden. Der Gesprächsbedarf ist groß.
Tageblatt: Wenn die Verhandlungen über eine neue Konvention scheitern, werden Sie einseitig ein Reglement erlassen müssen, das die Bedingungen der Konvention festhält. Die AMMD hat bereits angekündigt, prüfen zu wollen, ob das verfassungswidrig wäre, und die Konvention abzulehnen. Welche Folgen hätte eine Dekonventionierung für die Patienten?
Martine Deprez: Dass sie ihr Geld nicht von der CNS zurückbekommen. Vielleicht wollen manche Ärzte tarifgebunden bleiben und andere nicht. Wenn die AMMD Einspruch vor dem Verwaltungstribunal einlegt, müssen wir das Urteil des Verwaltungs- oder Verfassungsgerichts abwarten. Im Falle einer Dekonventionierung wären wir in einem Zwei-Klassen-System, das in Luxemburg bislang noch keiner offen gefordert hat.
Tageblatt: Zurzeit kursieren Gerüchte über eine Regierungsumbildung, in denen auch Ihr Name fällt. Werden Sie nächstes Jahr noch Ministerin sein?
Martine Deprez: Ich weiß nichts von einer Regierungsumbildung. Von ähnlichen Gerüchten habe ich schon vor den Sommerferien gehört, auch andere Namen sind gefallen. Ich mag meinen Job, ich bin weiterhin motiviert für die Gespräche, die noch kommen.